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14. November 2017
Ein außergewöhnliches Insekt inspiriert die Wissenschaft mit seinen Superkräften: Die Seehundlaus ist nicht einmal halb so groß wie ein Reiskorn, hält aber problemlos das 18 000-Fache ihres Körpergewichts. Als Unterwasser-Parasit heftet sie sich mit einem speziellen Klammergriff an ihr Wirtstier und trotzt damit selbst hohen Schwimmgeschwindigkeiten sowie tiefen Tauchgängen im Meer. Ihre ungewöhnliche Haltekraft macht die Seehundlaus für die Forschung gleich doppelt spannend: Eine Forschungsgruppe der Kieler Christian-Albrechts-Universität attestiert der Laus das höchste je bei Insekten gemessene Haltevermögen. Darüber hinaus können die karabinerartigen Haltestrukturen des Tierchens als Vorbild für bionische Entwicklungen dienen.
Seehundlaus: Anpassungskünstlerin im maritimen Lebensraum
Die Seehundlaus (Echinophthirius horridus) ist ein obligater Ektoparasit, der ausschließlich auf seinem Wirtstier bleibt und sich von dessen Blut ernährt. In diesem Fall lebt die Laus auf Seehunden oder Robben, hauptsächlich in der Nord- und Ostsee. Der Lebensraum im rauen Meer ist für Insekten alles andere als gemütlich. Gerade einmal 13 Insektenarten schaffen es, über längere Zeit im Salzwasser zu überleben. Der Seehundlaus scheint keine Herausforderung groß genug zu sein, dabei hat sie es deutlich schwerer als ihre Verwandten an Land: Sie muss unter anderem mit längeren Tauchgängen, starken Strömungen, wechselndem Druck, einem hohen Salzgehalt und Temperaturschwankungen zurechtkommen. Ein andauernder Kraftakt, an den sich der Parasit evolutionär bestens angepasst hat.
Smarte Greiftechnik der Superlative
Für Seehundläuse ist das Festklammern an ihrem Wirt in viel höherem Maß lebenswichtig als für ihre an Land lebenden Verwandten – ein Abrutschen bedeutet im Salzwasser ihren sicheren Tod. Entscheidend ist dabei ihr raffinierter Greifapparat, mit sie sich dauerhaft im Seehundfell verankert.
Wie alle anderen Läusearten, die an Land leben, haben auch Seehundläuse spezielle Krallen an jedem ihrer sechs Beine. Aber in ihrem Fall handelt es sich um eine besonders beeindruckende, multifunktionale, Konstruktion: Die Greifer funktionieren ähnlich wie bremsende „Mini-Karabinerhaken“, die man vom Klettern kennt: Sie können sich schnell öffnen, akkurat schließen und lösen sich bei Bedarf sofort.
Klingenartige Strukturen auf der Innenseite ihrer Krallen ermöglichen es der Seehundlaus einerseits, sich wie mit Steigeisen an Haaren des Seehundfells festzuklemmen. Andererseits sorgen weiche, polsterartige Pads, die ebenfalls innerhalb der Greifer sitzen, für eine große Reibungsfläche. Diese „Bremsbeläge“ erhöhen gezielt die Kontaktfläche zwischen Wirt und Parasit und stärken dadurch die Materialhaftung.
Durch dieses doppelte Sicherungssystem sitzt die Seehundlaus äußerst fest im Seehundfell und wird auch bei rasanten Sprints ihres Wirts oder in starker Brandung nicht abgespült.
Kieler Forschungsteam lüftet das Geheimnis des Klammergriffs
Ein Wissenschaftsteam der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat sich die außerordentliche Haltekraft der Seehundlaus im Labor genauer angeschaut.
Um die Morphologie des maritimen Parasiten und ihres Greifapparates zu analysieren, setzten die Forschenden Rasterelektronenmikroskopie sowie konfokale Laser-Scan-Mikroskopie ein. So konnten sie sowohl äußere als auch innere Materialstrukturen dreidimensional darstellen und anschließend näher betrachten.
Forschende der Tierärztlichen Hochschule Hannover untersuchten parallel hierzu histologische Schnitte der Laus und trugen mit wichtigen Informationen zur Ökologie und dem Verhalten der Tiere zum Verständnis des Mechanismus bei.
18 000-fache Haltekraft – Rekord im Insektenreich
Für die anschließenden Kraftmessungen befestigte das Kieler Wissenschaftsteam um Anika Preuss lebende Seehundläuse an menschlichen Haaren und brachte sie dann unter Wasser mit Seehundfell in Kontakt. Sobald sich die Läuse am Fell festgeklammert hatten, wurde ihr Haltevermögen an den Seehundhaaren dreimal täglich gemessen. Das Ergebnis ist beeindruckend: Die Tiere können das bis zu 18 000-Fache ihres Eigengewichts an Zugkräften aushalten.
Im Mittel liegt der sogenannte „Safety Factor“ (Haltekraft pro Körpergewicht) der Seehundlaus zwischen 4500 und 18 000 – Werte, die bisher bei keinem anderen Insekt dokumentiert wurden. Zum Vergleich: Menschen oder Maschinen erreichen in der Regel Sicherheitsfaktoren von 1 bis 10.
Bionik: Was die Technik von der Seehundlaus lernen kann
Das Potenzial, das 18 000-Fache des Körpergewichts zu halten, ist nicht nur ein Rekord im Insektenreich – es ist auch ein Lehrstück für Technik und Wissenschaft:
Die Seehundlaus zeigt eindrucksvoll, wie effizient und ausgereift evolutionäre Lösungen aus der Natur sein können. In einem Körper von nur zwei Millimetern Länge vereint sie biomechanische Raffinesse, Materialoptimierung und Anpassungsfähigkeit an extreme Umwelt- und Lebensbedingungen.
Bemerkenswert ist, dass ihre Haltekraft nicht auf aktiver Muskelkraft basiert, sondern auf passiven mechanischen Prinzipien. Ihre Greifmechanismen sind demzufolge energiesparend, robust und situativ-adaptiv – Eigenschaften, die in vielen technischen Anwendungen gefragt sind.
Das Fazit: Die Bionik kann sich, wie von vielen anderen Tieren und Naturprozessen einiges von der Seehundlaus abschauen. Ihre Karabinerkrallen mit integrierter Reibungspolsterung können Vorbild für zukünftige Greif- und Haltesysteme sein – zum Beispiel in der Unterwasserrobotik.
Quellen:
https://www.wissenschaft.de/erde-umwelt/rekord-haltevermoegen-bei-insekten-festgestellt
https://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/035-seehundlaus
https://www.biologie-seite.de/News/Warum_die_Seehundlaus_eine_Meisterin_des_Klammerns_ist.html