Weißer Welterfolg mit unsicherem Ende: Die Geschichte von Titandioxid


Die Farbe Weiß ist in unserem Kulturkreis mit Reinheit und Unschuld assoziiert – in Chemikerkreisen und der Lackindustrie aber vor allem mit Titandioxid. Diese Verbindung ist das Weißpigment schlechthin und findet sich heutzutage in nahezu allen Produkten, in denen eine weiße Grundierung gewünscht ist. Das so weit verbreitete Pigment hat zuletzt allerdings mit einem Sicherheitsproblem zu kämpfen. Was es damit auf sich hat, erkunden wir hier.

Toxisch, aber erfolgreich: Der Vorgänger von Titanweiß

Doch zunächst geht der Blick zurück. Weit zurück in die Antike, in der Titandioxid niemandem ein Begriff war. Für weiße Farbe nutzte man stattdessen das Pigment Bleiweiß, ein basisches Bleicarbonat mit der Formel 2PbCO3·Pb(OH)2. Es war für rund 2000 Jahre das einzige Weißpigment, das diese Bezeichnung verdiente, da es eine hohe Deckkraft aufweist und äußerst lichtbeständig ist.

Seine Herstellung aus Bleiplatten und Essig war bereits Theophrastus (ca. 371 bis 287 v. Chr.), Vitruv (ca. 80-70 v. Chr. bis ca. 15 n. Chr.) und Plinius d. Ä. (23 bis 79 n. Chr.) bekannt. Auch in China wurde ab etwa 300 v. Chr. Bleiweiß nach dieser antiken Methode hergestellt. [1] Heute undenkbar, nutzte man die bleihaltige und entsprechend toxische Farbe nicht nur für Ölgemälde und Außenanstriche, sondern auch für die direkte Anwendung auf der Haut, etwa als Schminke und Sonnenschutz im antiken Ägypten und Rom. Auch die japanischen Geishas verwendeten Bleiweiß, um ihre Gesichter zu schminken – ein bewusster Kontrast zu ihren traditionell mit Essig und Galläpfeln schwarz gefärbten Zähnen.

Aufgrund von mangelndem Wissen über Bleivergiftungen, sowie fehlenden qualitativ hochwertigen Alternativen, fand Bleiweiß noch bis ins 20. Jahrhundert hinein Verwendung. Erst 1930 wurde es für den Anstrich von Innenräumen offiziell verboten. Seit 1993 ist es nur noch für Restaurierungen von Kunstwerken und denkmalgeschützten Gebäuden zugelassen. [1]

Ein neues Weiß wird entdeckt

Dass ein Verbot durchsetzbar war, lag nicht nur an den Erkenntnissen zur Toxizität der Bleiverbindung, sondern auch an der mittlerweile verfügbaren Alternative: Titandioxid. Es wurde unabhängig voneinander von zwei Forschern entdeckt: 1791 von William Gregor im britischen Creed/Cornwall und 1795 von Martin Heinrich Klaproth in Berlin. [2]

Die industrielle Herstellung dieses neuen Weißpigments begann allerdings erst 1916 mit dem Sulfatverfahren nach Gustav Jebsen, bei dem das Titanerz Ilmenit (FeTiO3) mit konzentrierter Schwefelsäure aufgeschlossen wird. Dies war der endgültige Startschuss für den weltweiten Erfolg dieses Pigments. [3, 4] Heute basieren rund 70 Prozent der europäischen TiO2-Produktion auf dem Sulfatverfahren, die übrigen 30 Prozent entstammen dem Chloridverfahren, bei dem TiO2 aus natürlich vorkommendem Rutilmineral extrahiert wird. [4, 5]

Weißpigment entlarvt Kunstfälscher

Er gilt als einer der bekanntesten Kunstfälscher der Neuzeit: Wolfgang Beltracchi kaufte über Jahre hinweg Bilder unbekannter Künstler und übermalte sie im Stil berühmter Maler. Teil seines Erfolgskonzeptes war, dass er Leinwände stets aus der passenden Epoche der kopierten Maler verwendete sowie seine Farben selbst anmischte – so umfassend wie möglich unter Verwendung der Originaltechniken und -materialien der kopierten Künstler. So täuschte er mit seinen Werken selbst Kunstexperten. Für sein nachgemachtes „Rotes Bild mit Pferden“ von Heinrich Campendonk hatte Beltracchi allerdings eine gekaufte weiße Farbe benutzt, die auch Spuren von Titandioxid enthielt, einem Pigment, das erst nach der Schaffenszeit von Campendonk in der Kunstszene verwendet wurde. Als bei einer Analyse des Kunstwerkes im Labor von Art Analysis & Research das moderne Weißpigment nachgewiesen wurde, war Beltracchi überführt. Er wurde im Oktober 2011 zu sechs Jahren Haft verurteilt. [11]

Der Siegeszug von Titandioxid als „Titanweiß“ ist auf die herausragende Deckkraft des Pigments zurückzuführen sowie auf den großen Vorteil gegenüber dem bis dahin dominierenden Bleiweiß: seiner Ungiftigkeit. So findet sich das neue Weißpigment nicht nur in hochwertiger Wandfarbe und Druckertinte, sondern auch in Kosmetika, in Zahnpasta und – als Lebensmittelzusatzstoff E171 – in Lebensmitteln wie beispielsweise im Überzug von bunten Schokolinsen. [5]

Lebensmittelfarbstoff E 171 – eine Gefahr für die Gesundheit?

Doch das strahlende Image von Titanweiß hat inzwischen einen Dämpfer erfahren. Vertreter der EU-Mitgliedstaaten haben im Ständigen Ausschuss für Pflanzen, Tiere, Lebensmittel und Futtermittel (SCPAFF) dem Vorschlag zugestimmt, die Verwendung von Titandioxid (E 171) als Zusatzstoff in Lebensmitteln ab 2022 zu verbieten. Dabei berufen sich die Experten auf eine aktualisierte Sicherheitsbewertung von TiO2 durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) im Jahr 2021. [6]

„Unter Berücksichtigung aller verfügbaren wissenschaftlichen Studien und Daten kam das Gremium zu dem Schluss, dass Titandioxid als Lebensmittelzusatzstoff nicht mehr als sicher angesehen werden kann“, erklärt Prof. Maged Younes, Vorsitzender des EFSA-Sachverständigengremiums für Lebensmittelzusatzstoffe und Aromastoffe (FAF), in einer Pressemeldung. Ein entscheidender Faktor für diese Schlussfolgerung sei gewesen, dass die Experten eine Genotoxizität des Weißpigments nach dem Verzehr von Titandioxidpartikeln nicht ausschließen konnten, also eine mögliche Schädigung von DNA im Zellkern von Körperzellen. „Nach oraler Aufnahme ist die Resorption von Titandioxidpartikeln zwar gering, sie können sich jedoch im Körper ansammeln“, erläutert Younes in der Meldung weiter. [6]

Seit August 2022 dürfen deshalb keine Lebensmittel mehr mit Titandioxid gefärbt werden. Hingegen dürfen Arzneimitteln oder Kosmetika, also auch Zahnpasta und Sonnenmilch, weiterhin Titandioxid enthalten. [7] Wiederholt sich nun die Geschichte? Ist Titanweiß das neue Bleiweiß? Sind wir wie einst die japanischen Geishas einer Gefahr durch Weißpigmente ausgesetzt?

Ein Zoom auf die Argumente

Hier ist ein genauer Blick vonnöten. Denn die durch die ESFA vorgenommene Beschränkung unterscheidet aus gutem Grund zwischen TiO2 in einerseits Lebensmitteln und andererseits in anderen Anwendungen. Die Beschränkung gilt dabei gezielt nur für die orale Aufnahme des Stoffes und ist als Vorsichtsmaßnahme gedacht, weil sich die Genotoxizität von TiO2-Partikeln nicht ausschließen lässt und daher keine zulässige tägliche Aufnahmemenge für den Lebensmittelfarbstoff E 171 festgelegt werden kann. [6] Eine akute Gesundheitsgefahr besteht also nicht, möglicherweise aber eine langfristige. Bei Kontakt mit der Haut – etwa in Schminke oder Sonnencreme – gilt das Pigment als sicher, da eine transdermale Aufnahme nach derzeitigem Wissensstand nicht möglich ist. [7]

Warum ist Titandioxid in Medikamenten trotzdem erlaubt?

Während Lebensmittel seit 2022 nicht mehr mit Titandioxid hergestellt werden dürfen, gibt es für Medikamente derzeit noch kein solches Verbot. Diese Ungleichbehandlung gegenüber den Lebensmitteln begründet ein Sprecher des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gegenüber der Pharmazeutischen Zeitung: „Es muss berücksichtigt werden, dass durch den Verzicht auf TiO2 in Arzneimitteln möglicherweise deren Wirkung, Sicherheit und pharmazeutische Qualität verändert werden kann. Bei einem sofortigen vollständigen Verzicht auf TiO2 als Zusatzstoff für Arzneimittel wären erhebliche Arzneimittelengpässe auf dem EU-Markt zu erwarten.“

In Tabletten dient Titandioxid als wichtiger Hilfsstoff und schützt mit seiner hohen Deckkraft die verarbeiteten Wirkstoffe vor Sonnenlicht, sorgt also für die Haltbarkeit und Sicherheit der Medikamente.

Langfristig werden Hersteller TiO2 in Medikamenten durch andere Hilfsstoffe ersetzen müssen. Da es aktuell noch keinen Nachweis für eine akute Gesundheitsgefahr gibt, sondern lediglich das Auftreten einer Gefahr nicht mehr sicher ausgeschlossen werden kann, bleiben Tabletten mit TiO2 vorerst erlaubt. [12]

Industrie kritisiert die Gefährdungsbeurteilung

Titandioxid bleibt in Kosmetika und Medikamenten zwar aktuell erlaubt, das Risiko einer Aufnahme von Titandioxid-Partikeln bei Inhalation wird aber heftig diskutiert. So gilt nach der CLP-Verordnung (EG, Nr. 1272/2008) folgende Einstufung: Titandioxid in Pulverform mit mindestens 1 % Partikel mit aerodynamischem Durchmesser ≤10 µm gehört in die Gefahrenkategorie 2 und muss mit dem Gefahrenhinweis „kann vermutlich Krebs erzeugen (Einatmen)“ versehen werden. [8]

Diese Einstufung führte besonders im Bereich der Farben und Lacke, in denen TiO2 oft eine essenzielle Komponente ist, zu Verunsicherung bei den Verbrauchern und Ärger bei den Herstellern. Letztere kritisierten, dass die zugrundeliegenden Studien an Ratten nicht auf den Menschen übertragbar seien. Zudem habe man in den Untersuchungen extrem hohe Konzentrationen an Titandioxid-Staub inhalativ verabreicht, was in den wenigsten Fällen ein reales Expositionsszenario mit Titandioxid widerspiegele. Das Pigment ist in der Regel in eine Matrix wie Bindemittel und Kunststoff gebunden und liegt somit nicht als Staub vor, sodass eine sichere Anwendung gewährleistet ist, argumentierten die bayerischen Chemieverbände in einer Stellungnahme. [9]

Auch der Verband der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie hielt die Einstufung für nicht gerechtfertigt und verwies u. a. auf Studien an circa 24.000 Arbeitern über mehrere Jahrzehnte, in denen keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Mitarbeiter durch Titandioxid festgestellt wurden. [10]

Hier muss also der Weg zwischen Vorsichtsprinzip und technischen sowie wirtschaftlichen Interessen noch weiter ausgelotet werden. Zusätzliche Studien zu den möglichen toxikologischen Eigenschaften des Titandioxids sind hier wohl essenziell. Dann wird sich zeigen, welche Zukunft dem Weißpigment bevorsteht, das uns in den vergangenen 100 Jahren begleitet hat.

Quellen:

[1] https://materialarchiv.ch/de/ma:material_982?type=all&n=Hintergrund

[2] https://www.seilnacht.com/Lexikon/Titandi.htm

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Titan(IV)-oxid#Zunehmend_industrielle_Herstellung_und_Nutzung

[4] https://materialarchiv.ch/de/ma:material_984?type=all&n=Grundlagen

[5] https://www.tdma.info/de/about-tio2/was-ist-titandioxid/

[6] https://www.efsa.europa.eu/de/news/titanium-dioxide-e171-no-longer-considered-safe-when-used-food-additive

[7] https://www.vzhh.de/themen/lebensmittel-ernaehrung/schadstoffe-lebensmitteln/wie-bedenklich-ist-titandioxid-wo-ist-der-stoff-enthalten

[8] https://www.lgl.bayern.de/lebensmittel/chemie/schwermetalle/titandioxid/index.htm

[9] https://www.bayerische-chemieverbaende.de/presse/gefahreneinstufung-von-titandioxid-nicht-nachvollziehbar-2/

[10] https://www.lacke-und-farben.de/fileadmin/templates/img/pdf/LiG_131.pdf

[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Beltracchi

[12] https://www.pharmazeutische-zeitung.de/in-arzneimitteln-schwer-zu-ersetzen-137447/

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