Kartons aus Graspapier. Klingt grün. Ist grün.
19. Juli 2023
Wenn es so etwas wie einen ubiquitär anzustrebenden Idealzustand gibt, dann ist es wohl der des Gleichgewichts. Das gilt im Kleinen wie im Großen, in der belebten wie in der unbelebten Welt: Befindet sich ein System im Gleichgewicht, ist es stabil und resilient. Im Ungleichgewicht hingegen droht Gefahr. Die Wissenschaft beschreibt die sogenannte Homöostase als einen Gleichgewichtszustand eines offenen dynamischen Systems, der durch einen internen, regelnden Prozess aufrechterhalten wird. Was zeigt, dass Stabilität keineswegs Stillstand bedeutet und am Prozess der Selbstregulation immer mehrere sich gegenseitig beeinflussende Faktoren beteiligt sind. Die Regulationsprozesse einer Zelle sollten sich genauso im Gleichgewicht befinden, wie die eines Organs, eines ganzen Organismus, eines Ökosystems oder eben – der ganzen Welt.
Doch wo sind die Kipppunkte, die eine Zelle, ein Organ, ein Ökosystem ins Ungleichgewicht bringen und das System ernsthaft gefährden? Sie zu kennen schafft wertvollen Handlungsspielraum, um destruktive Prozesse aufzuhalten und das Gleichgewicht im Optimalfall wieder herzustellen. Das gilt auch für den größtmöglichen aller „Patienten“ – unsere Erde. Denn auch sie droht das Gleichgewicht zu verlieren: Einer aktuellen Studie zufolge ist bereits die Mehrzahl der für die Stabilität unseres Planeten entscheidenden Kipppunkte deutlich überschritten. Was sind die Ursachen? Ist dieser Prozess noch aufzuhalten? Und was passiert, wenn wir den Prozess nicht aufhalten?
Vom Holozän ins Anthropozän
Obwohl die Erde viele Perioden bedeutender Umweltveränderungen erlebt hat, waren die Bedingungen auf unserem Planeten in den letzten 10.000 Jahren ungewöhnlich stabil. In diesem Zeitraum der Stabilität, der nach dem Ende der letzten Eiszeit begann und von Geologen Holozän („das ganz Neue“) genannt wird, kam es zu natürlichen Umweltveränderungen, und die Regulationsfähigkeit der Erde sorgte für Bedingungen, die die menschliche Entwicklung ermöglichten: Regelmäßige Temperaturen, Süßwasserverfügbarkeit und biogeochemische Flüsse blieben alle innerhalb eines relativ engen Bereichs. Zunächst änderte der Mensch die biologischen, geologischen und atmosphärischen Erdprozesse nicht, seit der industriellen Revolution allerdings ist ein neues Zeitalter entstanden, in dem menschliche Einflüsse überhandnehmen. Forscher weltweit sehen sie bereits als hauptverantwortlich für die globalen Umweltveränderungen an – und nennen unser Zeitalter folglich „das neue (Zeitalter des) Menschen“: Anthropozän.
Das Problem: Die massiven menschlichen Einflüsse scheinen die Regulationsfähigkeit der Erde an ihre Grenze zu bringen. Was katastrophale Folgen haben könnte. Bereits im Jahr 2009 schrieben Johan Rockström et al. [1] in einer wegweisenden Nature-Publikation: „Obwohl die komplexen Systeme der Erde manchmal reibungslos auf veränderte Belastungen reagieren, scheint dies eher die Ausnahme als die Regel zu sein. Viele Teilsysteme der Erde reagieren auf nichtlineare, oft abrupte Weise und sind, besonders in der Nähe von Schwellenwerten, empfindlich für bestimmte Schlüsselvariablen. Wenn diese Schwellenwerte überschritten werden, können wichtige Teilsysteme, wie beispielsweise ein Monsunsystem, in einen neuen Zustand übergehen, oft mit schädlichen oder möglicherweise sogar katastrophalen Folgen für den Menschen.“ Die Forschenden bezogen sich dabei auf aktuelle Studien, welche die Existenz solcher nichtlinearen abrupten Zustandsänderungen ganzer Ökosysteme und die Gefahr, die von ihnen ausgeht, untersucht haben [2,3]. Gerät beispielsweise ein Monsunsystem aus dem Gleichgewicht, drohen gleichermaßen Dürren und problematische Starkregenfälle, was sich auf landwirtschaftliche Nutzflächen, natürliche Ökosysteme und somit die Lebensgrundlage von Milliarden von Menschen auswirkt [4]. Auch die Eisschmelze des arktischen Meereises und des grönländischen Eisschilds sind Beispiele für Systeme, die nach Ansicht der Forschenden in der Nähe von Kipppunkten besonders empfindlich reagieren und somit gefährdet sind für abrupte nichtlineare Reaktionen [3]. Ein Abschmelzen polarer Eismassen hätte nicht nur einen dramatischen Anstieg des Meeresspiegels zur Folge, sondern kann darüber hinaus Meeresströmungen und Ökosysteme, zum Beispiel in der Nordsee, gefährden und sich wiederum auf ganze Klimasysteme auswirken.
Daher ist die tatsächlich wesentlichste Frage die bereits eingangs gestellte: Ist dieser Prozess noch aufzuhalten?
Die neun Säulen der Stabilität
Um im heutigen Anthropozän einen holozän-ähnlichen Zustand der Erde zu erhalten, also ein sich selbst regelndes geoglobales Gleichgewicht, schlugen bereits Rockström et al. in erwähnter Publikation einen Rahmen vor, der auf „planetaren Belastungsgrenzen” basiert. Diese durch bestimmte Schwellenwerte festgelegten Grenzen sollen den sicheren Handlungsspielraum für die Menschheit in Bezug auf das Erdsystem definieren, der sowohl den interglazialen Zustand der Erde als auch ihre Widerstandsfähigkeit schützen würde. Sie verwendeten hierfür ein intuitiv erfassbares „Ampelsystem“, in dem grün für den stabilen holozänen Zustand, gelb für ein zunehmendes Risiko im Bereich von Schwellenwerten der planetaren Belastungsgrenzen und rot für ein durch deutliche Überschreitung dieser Grenzen massiv gefährdetes System stand. Die Forschenden um Rockström definierten dazu neun Teilbereiche: Integrität der Biosphäre, Klimawandel, Neuartige Entitäten (neuartige anthropogene Einträge), Stratosphärischer Ozonabbau, Atmosphärische Aerosolbelastung, Versauerung der Ozeane, Biogeochemische Kreisläufe, Veränderung des Süßwassersystems, Veränderung des Landsystems.
Diese neun Kriterien repräsentieren alle Komponenten des Erdsystems, die von anthropogenen Aktivitäten kritisch betroffen und für den Gesamtzustand der Erde relevant sind. Für jedes der Kriterien wurden Kontrollvariablen ausgewählt, um den wichtigsten anthropogenen Einfluss auf der planetaren Ebene zu erfassen. Berücksichtigt werden sollten zudem die Wechselwirkungen der einzelnen Störungen und die daraus resultierenden Effekte auf den Gesamtzustand des Erdsystems. Letzteres stellte und stellt ob der enormen Komplexität die wohl größte Herausforderung dar.
An der Identifikation und Anpassung geeigneter Schwellenwerte arbeiten seither Forschende weltweit. Für erneutes Aufsehen sorgte nun im September 2023 eine Publikation des Forschungsteams um Katherine Richardson und Johan Rockström [5], die den Zustand aller neun Kriterien auf Basis aktueller Studien neu bewertete und zu dem Ergebnis kam: Bei sechs der neun Kriterien sind die Grenzwerte des grünen Bereichs überschritten. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich die Erde bereits außerhalb des sicheren Betriebsbereichs für die Menschheit befinden könnte. Darüber hinaus – und das ist das zusätzlich Besondere an dieser Studie – simulierte das Forscherteam die Entwicklung der Erde mit Modellen des Erdsystems und der Biosphäre für mehrere hundert Jahre in die Zukunft. Als Vergleichsbasis diente ihnen die Phase zwischen der letzten Eiszeit und dem Beginn der industriellen Revolution.
Verliert unsere Erde das Gleichgewicht?
So sei der sichere Bereich beispielweise bei der Integrität der Biosphäre deutlich überschritten, schreibt das Team im Fachjournal „Science Advances“ und verweist auf das Artensterben. Als Schwellenwert der genetischen Komponente dieser Grenze war die maximale Aussterberate, die mit dem Erhalt der genetischen Grundlage der ökologischen Komplexität der Biosphäre vereinbar ist, auf <10 Aussterbefälle pro Million Artenjahre festgelegt worden. Richardson et al. nennen in ihrer aktuellen Publikation [2] den aktuellen tatsächlichen Wert der Aussterberate, nach ihrer Aussage konservativ, als >100 Aussterbefälle pro Million Artenjahre. Von schätzungsweise 8 Millionen Pflanzen- und Tierarten seien etwa 1 Million vom Aussterben bedroht, und mehr als 10 % der genetischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren könnten in den letzten 150 Jahren verloren gegangen sein. Die genetische Komponente der Integritätsgrenze der Biosphäre sei also deutlich überschritten. Für die funktionale Komponente dieser Integritätsgrenze der Biosphäre schlagen die Forscher indes 10 % der mittleren Nettoprimärproduktion (NPP) des Holozäns als neuen Schwellenwert vor. Bei 20 % ginge diese Grenze in die Zone hohen Risikos über. Die so definierte Grenze wurde nach Angaben der Forschenden bereits im späten 19. Jahrhundert überschritten, einer Zeit, in der sich die Landnutzung weltweit erheblich beschleunigte und starke Auswirkungen auf die Arten hatte.
Auch beim Klimawandel ist die planetare Belastungsgrenze bereits deutlich überschritten, so Richardson et al. Als Kontrollvariablen in diesem Rahmen wurden die jährlichen Durchschnittswerte der atmosphärischen CO2-Konzentration und die Änderung des Strahlungsantriebs festgelegt. (Beim Strahlungsantrieb handelt es sich um eine von außen auf das Erdsystem wirkende Kraft, die dieses System in eine bestimmte Richtung lenkt, beispielsweise die Solarstrahlung.) Beide Kontrollvariablen wurden in der aktuellen Publikation beibehalten und sind für die atmosphärische CO2-Konzentration auf 350 Teilchen pro Million (parts per million, ppm) und für den Strahlungsantrieb auf 1 Watt pro Quadratmeter festgelegt. Gegenwärtig betrage der geschätzte gesamte anthropogene effektive Strahlungsantrieb 2,91 W/m2 (Schätzung für 2022, bezogen auf 1750), und die atmosphärische CO2-Konzentration liege bei 417 ppm (Jahresmittelwert der Meeresoberfläche für 2022), womit beide Größen außerhalb des sicheren Betriebsbereichs lägen.
Überschritten sei die Grenze auch im Bereich des Einbringens neuartiger Entitäten in die Umwelt – also dem Eintrag vom Menschen erzeugter chemischer Verbindungen wie Mikroplastik, Pestizide, hormonell wirksamen Substanzen oder Atommüll. Die Forscher beziehen sich dabei auf hinsichtlich ihrer Unbedenklichkeit für das Erdsystem ungeprüfte Stoffe und legen die Grenze auf 0 % solcher Stoffe fest. Ebenso überschritten sei die planetare Belastungsgrenze der Biogeochemischen Kreisläufe, die derzeit den Eintrag von Nitrat und Phosphat berücksichtigt, und beim Zustand der Bewaldung (Veränderung des Landsystems). Weniger kritisch sei die Situation bei der Veränderung des Süßwassersystems, sowohl beim Verbrauch von „grünem“ Wasser in landwirtschaftlichen und natürlichen Böden beziehungswiese Pflanzen als auch bei „blauem“ Wasser in Flüssen, Seen und dergleichen. Doch auch hier sei die planetare Grenze überschritten, heißt es in der Studie.
Derzeit noch im sicheren Bereich liege demnach die Atmosphärische Aerosolbelastung, auch wenn in einigen Regionen wie etwa Südasien diese Grenze regelmäßig überschritten werde. Die Ozeanversauerung liegt nach der Definition der Forscher gerade noch im grünen Bereich, ebenso der Stratosphärische Ozonabbau. Für letzteren wurde die Grenze für den sicheren Betriebsraum auf 276 Dobson-Einheiten (DU) festgelegt, und mit einer aktuellen (2020) globalen Schätzung von 284 DU liegt sie demnach derzeit im sicheren Bereich. Überschritten werde diese Grenze aktuell nur über der Antarktis und den südlichen hohen Breiten und auch hier nur im dreimonatigen australischen Frühling. Gerade aus dieser Entwicklung zieht das Team Hoffnung auf Besserung auch für andere Probleme, denn in den 1990er Jahren habe der Abbau der Ozonschicht die planetare Grenze noch überschritten. Globale Initiativen, die durch das Montrealer Protokoll erreicht wurden, haben demnach Wirkung gezeigt und sollten Ansporn für die Menschheit sein, stärker im Sinne unseres Erdsystems aktiv zu werden.
Chancen für die Zukunft?
Denn auch wenn eine Belastungsgrenze überschritten ist, gebe es Möglichkeiten, die Lage zu bessern, betont das Team und verweist am Beispiel der Erderwärmung etwa auf das Instrument der Aufforstung. An dieser Stelle werden auch die oben erwähnten Simulationen des zukünftigen Erdsystems und der Biosphäre relevant. Diese hätten ergeben, dass anthropogene Aktivitäten um 1988 sowohl das Klima als auch das Landsystem aus ihrem sicheren Betriebsbereich herausgebracht haben. Die Simulationen zeigen laut Publikation: Wäre das Erdsystem unter den Bedingungen von 1988 geblieben (350 ppm und 85 %/50 %/85 % der verbleibenden tropischen/gemäßigten/borealen Waldbedeckung), wäre die Temperatur über der globalen Landoberfläche in den folgenden 800 Jahren um nicht mehr als 0,6 °C gestiegen. Es gäbe also weitgehend stabile Bedingungen und nicht einen Temperaturanstieg um mehr als 1,3 °C im Vergleich zur vorindustriellen Zeit.
Sollte die Menschheit es schaffen, den CO2-Gehalt der Atmosphäre auf 450 ppm und die Waldbedeckung durch Aufforstung bei 60 %/30 %/60 % der natürlichen borealen/gemäßigten/tropischen Bedeckung zu bringen und dann zu halten, lässt sich die Erderwärmung laut Simulation der Wissenschaftler begrenzen auf einen mittleren Temperaturanstieg über Land von 1,4 °C bis zum Jahr 2100 und 1,9 °C bis etwa 2800. Und auch, wenn etliche Klimaforscher das Erreichen dieses Zieles bereits für nicht mehr realistisch umsetzbar halten, ist Aufgeben in Verantwortung für die nachfolgenden Generationen keine Option!
Quellen:
[1] Rockström, J., Steffen, W., Noone, K. et al. A safe operating space for humanity. Nature 461, 472–475 (2009). https://doi.org/10.1038/461472a
[2] Scheffer, M., Carpenter, S., Foley, J. et al. Catastrophic shifts in ecosystems. Nature 413, 591–596 (2001). https://doi.org/10.1038/35098000
[3] Lenton, T. M. et al. Tipping elements in the Earth’s climate system. Proc. Natl Acad. Sci. USA 105, 1786–1793 (2008).
[4] Wang, Y.V., Larsen, T., Lauterbach, S., Andersen, N., Blanz, T., Krebs-Kanzow, U., Gierz, P., Schneider, R. R., Higher sea surface temperature in the Indian Ocean during the Last Interglacial weakened the South Asian monsoon. Proc. Natl Acad. Sci. USA 119 March 1, 2022
119 (10) e2107720119, https://doi.org/10.1073/pnas.2107720119
[5] Richardson, K., Rockström, J. et al. Earth beyond six of nine planetary boundaries. Science Advances, 13 Sep 2023, Vol 9, Issue 3, https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adh2458