Warum können nicht alle Menschen Rot von Grün trennen?
14. Januar 2022
Es sieht aus wie ein Stück Kohle, ist aber das leichteste Material der Welt: Aerographen. Das „feste Nichts“ besteht aus Graphen-Schichten, die zu einem Netzwerk mit großen Poren zusammengeschlossen sind. Das Kohlenstoffgerüst allein hat mit 0,16 mg/cm³ eine extrem geringe Dichte – 7,5-mal weniger als Luft. [1] Nur weil sich die Hohlräume in dem Material mit der Umgebungsluft füllen – und es durch die gefüllten Poren somit selbst zu 99,9 Prozent aus Luft besteht – schwebt es nicht einfach davon wie ein Heliumballon.
[2] Doch nicht nur Luft kann die Poren des Materials füllen: Aerographen funktioniert wie ein fester Schwamm und nimmt bis zum Tausendfachen seines Eigengewichtes an Öl auf. [3] Damit ist es ein vielversprechender Kandidat, um bei Öllecks als Absorbens eingesetzt zu werden und Umweltschäden zu verhindern.
Eine Erfolgsstory aus Kohlenstoff
Mit Aerographen geht die Erfolgsgeschichte reiner Kohlenstoff-Verbindungen in die nächste Runde. Berühmter Vorreiter ist das Graphen selbst, welches bereits 2004 von Andre Geim und Konstantin Novoselov an der University of Manchester entdeckt wurde. Die beiden Forscher wurden für ihre Arbeit mit dem zweidimensionalen „Wundermaterial“ 2010 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet. [4] Eine der herausragenden Eigenschaften von Graphen ist seine hohe elektrische Leitfähigkeit, die rund 70 Prozent höher ist als die von Kupfer. [5] Damit findet es Einsatz in Akkus und Batterien, Touch-Screens und Solarzellen.
2012 gelang einem Team der Technischen Universität Hamburg-Harburg die Synthese von Aerographit. Damals war dieser auf Graphit basierende Stoff noch der Rekordhalter für das leichteste Material der Welt. Doch schon 2013 veröffentlichte eine Forschergruppe um Gao Chao von der chinesischen Zhejiang University ihre Publikation von der ersten Synthese des Aerographens – dem neuen Rekordhalter für das Material mit der geringsten Dichte der Welt. [6] Sie verwendeten dazu ein Hydrogel mit Graphenoxid und Kohlenstoffnanoröhrchen, dem sie per Gefriertrocknung nach und nach das Lösungsmittel entzogen sowie chemisch den Sauerstoff entfernten. Das Resultat war ein elektrisch leitfähiger, elastischer-fester Schaum: das Aerographen, auch Graphen Aerogel genannt.
Aerographen aus dem 3D-Drucker – im Einsatz für Wasserfilter
Seitdem ist die Faszination für die „feste Luft“ nicht mehr abgerissen. Die Forschung setzt sich weiterhin intensiv mit Aerographen auseinander und liefert neue Ergebnisse und Anwendungsmöglichkeiten. So ist es mittlerweile möglich, Aerographen mittels 3D-Druck herzustellen. Dazu haben Wissenschaftler vom amerikanischen Lawrence Livermore National Laboratory eine spezielle Tinte entwickelt, in der Graphenoxid enthalten ist. Durch zugesetztes Silka-Pulver (SiO2) gelang es ihnen, die Viskosität der Tinte für den 3D-Druck zu optimieren. Die mittels einer feinen Nadel gedruckten dreidimensionalen Strukturen werden durch Gefriertrockung vom Lösungsmittel befreit und bei gut 1.000 Grad Celsius im Ofen ausgehärtet. Schließlich wird das Siliziumdioxid mittels Flusssäure (HF) herausgeätzt und die stabilen, ultraleichten Aerographen-Strukturen werden freigelegt. [7] Diese Art der Herstellung ermöglicht es, komplexe, leichte und gleichzeitig sehr stabile Strukturen zu drucken, die ein breites Anwendungsspektrum bieten.
Ingenieure der University of Buffalo haben bereits gedrucktes Aerographen verwendet, um in einem Pilotprojekt Wasser zu filtern. [8] Ein großer Vorteil dieser Wasseraufbereitungsmethode liegt darin, dass die Aerogele skalierbar sind und in großem Maßstab eingesetzt werden können. Darüber hinaus lassen sie sich wiederholt verwenden und es bleiben keine chemischen Rückstände zurück – optimale Eigenschaften für den Einsatz in großen Anlagen wie Klärwerken. In erfolgreichen Tests ließen sich bereits Verunreinigungen durch Blei, Chrom, Hexan, Heptan und Toluol aus Trinkwasser entfernen. Das Aerogel filterte in den Versuchen der Forscher zehnmal hintereinander 100 Prozent der organischen Lösungsmittel aus dem durchgeleiteten Wasser, ohne dass es ausgetauscht werden musste. [8] Ein Patent auf das Verfahren ist dem Team zufolge bereits angemeldet; die Forscher suchen noch nach Partnern in der Industrie, um die Methode praxistauglich zu machen.
Kontrollierte Explosionen mit gewaltiger Hubkraft
Eine besonders faszinierende Fähigkeit von Aerographen haben Materialforscher der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 2021 entdeckt. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Technischen Universität Dresden, der Queen Mary University of London, der University of Trento und der University of Southern Denmark zeigten sie, dass sich das Material wegen seiner geringen Dichte im Bruchteil einer Sekunde bis zu mehrere hundert Grad elektrisch aufheizen lässt, ohne dass es zu Korrosion, Beschädigung oder gar Zerstörung des Materials kommt. Stattdessen erfolgen kleine kontrollierte Explosionen, weil sich die Luft in den Poren durch die Erhitzung schlagartig ausdehnt.
Aufgrund der geringen Speicherkapazität für Wärme kühlt sich Aerographen aber genauso schnell wieder ab, sobald die Energie- bzw. Stromzufuhr unterbrochen wird. Durch die sich rapide abwechselnde Erwärmung und Abkühlung bzw. die Expansion und Kompression der Luft im Aerographen entsteht eine leistungsstarke Druckluft, ohne dass eine externe Luft- oder Gaszufuhr notwendig wäre. Auf diese Weise lassen sich kraftvolle neuartige Luftpumpen, Druckluftgeneratoren und Aktuatoren herstellen, mit denen z. B. ein Pumpenkopf präzise bewegt werden kann – mehrfach innerhalb einer Sekunde.
Wie leistungsstark die Pumpkraft von elektrisch aufgeheiztem Aerographen ist, verdeutlicht der Laborversuch der Forscher: Darin genügten lediglich zehn Milligramm Aerographen, um ein Gewicht von zwei Kilogramm in wenigen Millisekunden hochzupressen. Mit dieser Kraft würden theoretisch 450 Gramm Aerographen genügen, um einen Elefanten anzuheben. [2] Neben der enormen Kraft beeindruckt aber auch die Präzision: Die Stärke der Luftstöße lässt sich – bei nur geringem Energieaufwand aufgrund der niedrigen Leitfähigkeit – über die Stromzufuhr exakt steuern.
Die Anwendungen sind vielfältig – ein Ende nicht in Sicht
Neben dem Einsatz in der Wasseraufbereitung und Druckluftanwendungen finden sich bereits weitere Applikationsoptionen für das Aerographen. So kann es beispielsweise zur Entwicklung einer neuen Generation von Luftfiltern für die Luftfahrttechnik eingesetzt werden: Durch die offene, netzartige Struktur der Substanz lassen sich leichte Luftströme leiten, in denen mithilfe einer intensiven kurzzeitigen Erhitzung Viren und Bakterien abgetötet werden. Sogar Kometen ließen sich damit im All beproben, indem ein Raumfahrzeug mit einem Sammelgitter aus Aerographen ausgestattet und zum Schweif des Kometen gesteuert wird. Dies würde es Wissenschaftlern erleichtern, Eis- und Gesteinspartikel auf die Erde zu bringen und zu analysieren.
Aber auch abseits der Astronomie bietet Aerographen ein großes Anwendungspotenzial, z. B. für neue Formen von Isolierungen, Phasenwechselmaterialien für die Energiespeicherung und Produktion von leichten Batterien mit einer hohen Energiedichte. Die Erschließung von Aerographen für Industrie und Technik hat also gerade erst begonnen.
Literatur:
[1] https://www.guinnessworldrecords.com/world-records/least-dense-solid
[2] https://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/248-aerographen
[3] https://www.nature.com/articles/ncomms7141
[4] https://en.wikipedia.org/wiki/Graphene
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Elektrische_Leitf%C3%A4higkeit
[6] https://www.nature.com/articles/494404a
[7] https://www.nature.com/articles/ncomms7962
[8] https://www.3dnatives.com/de/3d-druck-aerographen-200420211/
[9] Bildquelle: Zhejiang University (https://www.3yourmind.com/de/neuigkeiten/3d-druck-graphene-aerogel-das-leichteste-material)