mikroRNA – kleine RNA ganz groß


Der Nobelpreis für Physiologie und Medizin 2024


MicroRNAs werden seit ihrer Entdeckung im Jahr 1993 aufgrund ihrer fundamentalen Rolle im Rahmen der Genregulation intensiv beforscht und gelten als vielversprechende therapeutische Optionen der Zukunft. Erfahren Sie in unserem Artikel, warum sie ihren Entdeckern den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2024 einbrachten und was die RNA-Winzlinge so besonders macht.


Was macht uns als Menschen aus?

Unser Geist, unser Körper, unsere Intelligenz oder unsere Gefühle? Eine einfache Antwort gibt es nicht – ein Philosoph wird anders auf diese Frage antworten als ein Theologe und beide wiederum anders als ein Naturwissenschaftler.

Für einen Molekularbiologen wird die Antwort wohl lauten: unsere DNA. Denn im genetischen Code gespeichert, enthält sie als „Bauplan des Lebens“ alle Informationen, die es braucht, um sämtliche Prozesse in unserem Körper zu steuern. Schon die befruchtete Eizelle ist mit diesem „Gesamtpaket“ an genetischer Information ausgestattet und gibt es an alle Körperzellen weiter. Doch obwohl diese Zellen genetisch identisch sind, entwickeln sie sich im Verlauf der Embryonalentwicklung höchst unterschiedlich: Zu Haut-, Blut- oder Gehirnzellen, zu Zellen unseres Herzens, unserer Leber oder unserer Nieren, sie bilden Sehnen, Muskeln oder Knochen.

Wie kann das sein? Wie kann unser Körper so viele verschiedene Zellen und Gewebe bilden, obwohl alle Zellen die identische DNA in sich tragen?

Die Antwort auf diese Frage ist zwar ebenfalls nicht einfach, aber zumindest eindeutig: durch Genregulation. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies nichts anderes, als dass nicht in jeder Zelle unseres Körpers permanent alle Gene aktiv sind. Je nach Zelltyp werden nur bestimmte Gene exprimiert, also in die jeweiligen Proteine „übersetzt“, für die sie die Vorlage (Matrize) bilden. Gene für andere, in dieser Zelle nicht benötigte, Proteine werden hingegen stillgelegt.

mikroRNA – kleine RNA ganz groß


Man kann es vergleichen mit einer Behörde mit sehr vielen Zimmern, in denen immer der gleiche Schrank mit den gleichen sehr vielen Akten in sehr vielen Schubladen steht. Macht man alle Schubladen auf und versucht, die Anweisungen alle umzusetzen, herrscht blankes Chaos. Daher bleiben in jedem Zimmer die meisten Schubladen einfach geschlossen und nur ein paar sind jeweils mit ‚Bitte öffnen und umsetzen‘ markiert – in jedem Zimmer ein speziell definiertes Set. Nur diejenigen Schubladen (Gene), die für dieses Zimmer (Zelle) wirklich relevant sind, werden geöffnet und die Anweisungen umgesetzt (Proteine erzeugt).

Ohne diese geregelte Aktivität bzw. Passivität von Genen, also dem Verhindern von „Datenablesen“ ganz am Anfang des Prozesses, wäre Chaos in den Zellen.


Kleine RNAs mit großer Wirkung

Die Genregulation in jeder Zelle ist der wohl fundamentalste und komplexeste Regulationsprozess des Lebens. Für die Aufklärung der Rolle einer Gruppe dabei entscheidender Akteure haben die beiden US-amerikanischen Forscher Victor Ambros und Gary Ruvkun Ende 2024 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhalten.

Was hatten sie entdeckt? Bereits seit den 1960er Jahren waren als wichtiger Teil der Genregulation sogenannte Transkriptionsfaktoren bekannt – Proteine, die sich an das Erbgut anlagern und die Transkription, also das Ablesen bestimmter Gene, regulieren können. Doch nicht alle genregulatorischen Prozesse ließen sich auf diese Weise erklären. Es musste darüber hinaus Regulationsmechanismen geben, die erst danach ansetzen. Also post-transkriptional, wenn die Gene bereits in mRNA (messanger- oder Boten-RNA) „transkribiert“ waren, welche als Vorlage für die Proteinexpression dient.

Mit der Entdeckung sogenannter microRNA fanden Ambros und Ruvkun 1993 eine ganz neue Form einer solchen post-transkriptionalen Genregulation – und zwar zunächst in Fadenwürmern. Es handelte sich um kleine, nicht-codierende RNA-Schnipsel, die meist nur eine Länge von 21 bis 23 Nukleotiden aufwiesen. Dank ihrer Basenabfolge können die microRNAs an mehreren unterschiedlichen mRNAs andocken und dadurch die Produktion vieler Proteine gleichzeitig regulieren. Umgekehrt kann die Herstellung eines Proteins durch mehrere verschiedene microRNAs blockiert werden.

mikroRNA – kleine RNA ganz groß


Die kleinen RNA-Sequenzen blockieren die Genaktivität, indem sie sich an die 3’-nicht-translatierten Bereiche von mRNA anlagern. Das ist der Anfang der mRNA, der nicht in Proteinketten übersetzt wird, sondern solchen Regulationsvorgängen dient. Es wird vermutet, dass microRNAs hierdurch die gebundene mRNA für die RNA-Degradationsmaschinerie der Zelle markiert und auf diese Weise ihren gezielten Abbau fördert. Diese Maschinerie sorgt unter anderem dafür, dass überzählige, beschädigte oder nicht mehr benötigte RNA abgebaut wird und regelt so auch die Funktionalität und Menge der synthetisierten Proteine. Auch RNA von Viren oder anderen Pathogenen wird auf diese Weise abgebaut, was dem Schutz vor Infektionen dient.

Der über die microRNAs regulierte Prozess ist ebenso effizient wie fein justierbar. Und er trägt entscheidend dazu bei, dass auf Basis desselben genetischen Materials so viele unterschiedliche Zell- und Gewebearten entstehen können. „Diese bahnbrechende Entdeckung von Ambros und Ruvkun war unerwartet und enthüllte eine ganz neue Dimension der Genregulation, die für alle Lebensformen essenziell ist“, erklärt das Nobelpreis-Komitee.


Von Grundlagenlagenwissen bis therapeutische Anwendung

Heute weiß man, dass unser Erbgut tausende Gene für solche regulatorischen microRNAs enthält und dass ihre Rolle weit über die Zelldifferenzierung hinaus fundamental ist. „Die regulatorische Rolle der Mikro-RNA umfasst das Timing der Embryonalentwicklung, die Entstehung und Stabilität von Zelllinien, die Physiologie und das homöostatische Gleichgewicht“, erklärt das Nobelpreis-Komitee. MicroRNAs beeinflussen u.a. unsere innere Uhr und ihre Existenz scheint eng mit der Evolution immer komplexerer Organismen verknüpft zu sein. Von Stoffwechselerkrankungen über Herzinsuffizienz bis hin zu psychologischen Erkrankungen ist für microRNAs eine Beteilung an einer ganzen Reihe Erkrankungen bereits erwiesen oder wahrscheinlich. Und da Prozesse, die komplex reguliert sind, auch fatal aus dem Ruder laufen können, überrascht es kaum, dass microRNAs auch daran beteiligt sein können, dass Zellen entarten und Krebs entsteht.

Das Verständnis der Funktion von microRNAs und der mit ihnen verbundenen Mechanismen liefert somit nicht nur wichtiges Grundlagenwissen. Vielmehr sind microRNAs auch von immenser therapeutischer Bedeutung – als Wirkstoffe, als Angriffspunkte für neue Therapien oder im Rahmen der Diagnostik. Seit ihrer Entdeckung sind sie auch in dieser Hinsicht Gegenstand intensiver Forschung und mehrere Kandidaten befinden sich bereits in der Pipeline für die praktische Anwendung, sei es als Therapieoption bei Herzinsuffizienz oder zur Früherkennung von Alzheimer.

mikroRNA – kleine RNA ganz groß


Was also macht uns als Menschen aus?

Jeder Mensch ist genetisch einzigartig – doch das gilt auch für jedes Tier, jede Pflanze und wohl auch für jeden Mikroorganismus. Doch der Mensch kann in der Forschung all seinen Verstand nutzen, um die Mechanismen des Lebens weiter zu ergründen, damit dieses Wissen idealerweise dem Leben zugutekommt. Das Beispiel der microRNAs zeigt dies einmal mehr.


Quellen:

Nobelpreise 2024: Medizin-Nobelpreis für Rollenklärung der microRNA

Pressemitteilung: Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2024 – NobelPrize.org

MicroRNAs – mächtige Winzlinge, die Gene ausschalten

MicroRNAs – klein aber oho!

Erste microRNA-Therapie für das Herz funktioniert beim Menschen

Einblicke in die mRNA-abbauende Maschinerie der Zelle


Bilder:

Pressemitteilung: Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2024 – NobelPrize.org

The illustrations are free to use for non-commercial purposes.
© The Nobel Committee for Physiology or Medicine. Ill. Mattias Karlén

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