Vom unerwarteten Erfolg Polyoxometallat-basierter ionischer Flüssigkeiten oder wie man im Handumdrehen Uran aus Wasser verschwinden lässt

Seit 2014 verleiht Carl Roth gemeinsam mit der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) jedes Jahr den mit 8.000 € dotierten Carl-Roth-Förderpreis an Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler der chemischen Wissenschaften. 

In diesem Jahr erhielt die begehrte Auszeichnung Dr. Sven Herrmann für seine Arbeiten an der Universität Ulm zur Synthese und den Eigenschaften von Polyoxometallat-basierten ionischen Flüssigkeiten. Der Preisträger erarbeitete neue anwendungsbezogene Konzepte und konnte die von ihm untersuchten Materialien unter anderem für einen neuen Korrosionsschutz zugänglich machen. Darüber hinaus entwickelte er auf der Basis seiner Forschung ein innovatives Filtermaterial für die Wasseraufbereitung, das bereits zum Patent angemeldet wurde.

In Ordnung, Glückwunsch dazu, mag sich manch einer dabei vielleicht denken und die Nachricht kurz darauf schon wieder vergessen. Doch bohrt man nur ein wenig tiefer, stellt man fest, dass es sich lohnt, sich damit noch ein bisschen genauer auseinanderzusetzen. Denn was Dr. Sven Herrmann herausgefunden hat, ist ohne zu übertreiben spektakulär. Es geht dabei um nicht weniger als die Lösung von gleich zwei weltweit relevanten Problemen. Und relevant meint in diesem Fall nicht nur von wirtschaftlicher Bedeutung, sondern im wörtlichen Sinne auch lebenswichtig.

1. Sauberes Trinkwasser für alle

Im Jahr 2010 hat die UN-Vollversammlung das Recht auf Zugang zu sauberem Wasser zum Menschenrecht gemacht. Trotz aller Bemühungen haben auch heute etwa 10% aller Menschen auf der Erde keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Der Mangel an sauberem Trinkwasser und die Schwierigkeit, es herzustellen, ist heute eine der größten humanitären Herausforderungen überhaupt. Krankheitserreger, Verunreinigungen, sogar radioaktive Bestandteile belasten vielerorts das Wasser, das nur über komplexe mehrstufige Verfahren wieder gereinigt werden kann. Seit der Entdeckung von Dr. Sven Herrmann gibt es Hoffnung auf eine einfache Lösung dieses Problems: POM-IL.


Dr. Sven Herrmann erklärt während der Preisverleihung des Carl-Roth-Förderpreises seine Entdeckung der POM-IL.
Foto: Dietrich vom Berge, Oberursel, alle Rechte bei der GDCh.

Zum Hintergrund: Polyoxometallate (POMs) sind molekulare Metall-Oxo-Anionen, die sich in wässrigen Lösungen besonders kostengünstig und umweltschonend industriell herstellen lassen. IL steht dabei für ionic liquids, also bei Raumtemperatur flüssige Salze. Die Verbindung der beiden Komponenten macht sie zu POM-ILs, „Wunderwaffen“ mit bemerkenswerten Eigenschaften. Besonders ungewöhnlich: POM-ILs lösen sich in nahezu allen organischen Lösungsmitteln – nicht aber in Wasser. Dazu kommt ihre chemische Flexibilität, die es ihnen über entsprechende Bindungsstellen sogar ermöglicht, beispielsweise toxische Schwermetalle oder radioaktive Stoffe zu binden. Also perfekte Eigenschaften für einen hoch wirksamen Wasserfilter.


Für seine Experimente trug Dr. Herrmann die POM-IL auf handelsübliche, poröse Silikate auf und entwickelte so ein Granulat, das eingefüllt in Filterkartuschen direkt als Wasserfilter eingesetzt werden kann. Und die Ergebnisse beeindrucken: Dr. Herrmann konnte nachweisen, dass der POM-IL-Filter nicht nur organische und mikrobakterielle Verunreinigungen in Form von Textilfarbe und E. Coli-Bakterien aus dem Wasser herausfiltern kann, sondern auch giftige Schwermetalle wie Blei und Chrom und radioaktive Stoffe wie Uran. Und das bis zu 100%.

Tabellarische Darstellung der Entfernung beispielhafter Schadstoffe in typischen Verunreinigungskonzentrationen. Quelle: Dr. Sven Herrmann
Tabellarische Darstellung der Entfernung beispielhafter Schadstoffe in typischen Verunreinigungskonzentrationen. Quelle: Dr. Sven Herrmann

Es ist unschwer zu erkennen, welch enormes Potenzial diese Entdeckung alleine im Anwendungsbereich der Wasseraufbereitung birgt. Und die Einsatzgebiete reichen noch weiter: Mit POM-IL-Filtermaterialien wäre es beispielsweise auch möglich, künftig multiresistente Keime aus Krankenhausluft einfach herauszufiltern. Eine Entdeckung, die fast zu schön klingt um wahr zu sein – und es dennoch ist.

2. Der ewige Kampf gegen Korrosion

Dagegen scheint die zweite Entdeckung von Dr. Herrmann schon fast unspektakulär. Aber auch nur fast. Denn: Der volkswirtschaftliche Schaden, der durch Korrosion entsteht, beläuft sich alleine in den USA auf 3% des Bruttoinlandsprodukts – das sind rund 537.000.000.000 (537 Mrd.) US-Dollar – die indirekten Schäden aufgrund von Wartungsarbeiten, Produktionsausfällen und Effizienzminderung noch nicht eingerechnet. Und hier zeigt sich eine weitere hervorragende Einsatzmöglichkeit von POM-ILs.

Dank der Temperatur- und Säurestabilität der hochviskosen POM-ILs, eignen sie sich gut als Beschichtung auf Metallen wie Kupfer. Durch Aufsprühen oder Aufpinseln bildet sich so ganz einfach ein chemisch und mechanisch stabiler Korrosionsschutzfilm gegen Säuren. Und dieser lässt sich mit einem geeigneten Lösungsmittel auch problemlos wieder abspülen und wiederverwenden – ein großer Vorteil gegenüber konventionellen Schutz-Lacken.

Eine weitere ungewöhnliche Eigenschaft der POM-IL: Sie verhalten sich rheologisch und ermöglichen so die Entwicklung von selbstheilenden Schutzbeschichtungen. So verschließt sich beispielsweise ein Kratzer auf einem mit POM-IL beschichteten Kupferplättchen innerhalb weniger Sekunden wieder.

Selbstheilung der POM-IL-Beschichtung nach mechanischem Schaden. Die POM-IL-beschichtete Probe wird durch ein Messer angeritzt, die Beschichtung heilt sich innerhalb von 30 Sekunden selbst. Quelle: Dr. Sven Herrmann
Selbstheilung der POM-IL-Beschichtung nach mechanischem Schaden. Die POM-IL-beschichtete Probe wird durch ein Messer angeritzt, die Beschichtung heilt sich innerhalb von 30 Sekunden selbst. Quelle: Dr. Sven Herrmann

Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was sich daraus alles entwickeln lässt: Autos ohne Rostbeulen, Brücken mit deutlich weniger Wartungsbedarf und Fahrradketten, die dauerhaft geschmeidig bleiben. Und die POM-IL als Korrosionsschutzmittel werden bereits weiterentwickelt – zum Beispiel zur Anwendung auf Marmor und Kalkstein. Eine Nachricht, die vor allem Freunde der Baukunst freuen dürfte.

Carl Roth fördert Wissenschaft mit gesellschaftlicher Relevanz

Wer bis hierher gelesen hat, kommt sicher nicht umhin, zuzugeben, dass er zumindest innerlich an der einen oder anderen Stelle große Augen gemacht hat. Es zeigt sich: Hinter der oben so nüchtern vorgetragenen Meldung verbirgt sich eine Entdeckung, die einen konkreten Nutzen für die Menschen bietet. Und genau darum geht es beim Carl-Roth-Förderpreis.

Das Unternehmen Carl Roth hat es sich als professioneller Laborpartner zur Aufgabe gemacht, die gesellschaftliche und wissenschaftliche Relevanz in wissenschaftlichen Entwicklungen und Anwendungen zu erkennen, sie ideell zu fördern und materiell zu unterstützen. Und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sie und diejenigen, die sie hervorbringen, von einer breiteren Öffentlichkeit gehört werden. Denn wie die Geschichte zeigt, bleiben wissenschaftliche Entdeckungen in der Praxis leider viel zu oft ungenutzt.

Weitere Informationen über den Carl-Roth-Förderpreis und die Bewerbungsfristen erhalten Sie hier.

Titelbild: Dietrich vom Berge, Oberursel, alle Rechte bei der GDCh.

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